Freitag, 5. Mai 2023

Renditekiller Ankereffekt: Passiert fast jedem, ganz unbewusst. Ist aber echt teuer...

Psychologie hat einen enormen Einfluss auf unsere Entscheidungen, auch an der Börse. André Kostolany meinte sogar, die Börsenkurse würden zu 90 % von psychologischen Faktoren beeinflusst. Grund genug, sich als Anleger mit "Behavioral Finance" (Verhaltensökonomie) zu beschäftigen und dabei einem Phänomen auf die Schliche zu kommen, das so natürlich zu unserem Lebensalltag gehört, dass wir es gar nicht mitbekommen. Und das uns viel Rendite kostet, wenn wir uns nicht bewusst dagegen zu Wehr setzen: der Ankereffekt.

Zunächst muss man wissen, wobei es beim Ankereffekt ("anchoring effect") eigentlich geht: Bewusst gewählte Zahlenwerte werden von momentan vorhandenen Umgebungsinformationen beeinflusst, ohne dass uns dieser Einfluss bewusst wird, und zwar selbst dann, wenn sie für die Entscheidung eigentlich irrelevant sind. Unser Urteil wird also durch unsere aktuelle Situation geprägt, weil wir sie zum Ausgangspunkt unserer Bewertung machen. Sie wirkt wie ein Filter - oder ein Anker. Die Folge ist eine systematische Verzerrung in Richtung des Ankers. Und dieser ist rein willkürlich, weil er - je nach Lage - anders positioniert ist und damit zu unterschiedlichen Ergebnissen einer eigentlich objektiv und sachlich fundierten Einschätzung führt.

Hat man also gerade sechs Richtige im Lotto und die Börse knickt ein, nimmt man das anders wahr, als wenn obendrein noch ein Kolbenfresser den Motor des neuen Porsche zerstört hat und eine teurer Reparatur on top kommt. Dabei hat der Börseneinbruch, isoliert betrachtet, in beiden Fällen die gleiche Auswirkung. Real. Aber eben nicht auf unsere Psyche.
»Die Börse reagiert gerade mal zu zehn Prozent auf Fakten. Alles andere ist Psychologie."
(Andrè Kostoloany)
Nun könnte man meinen, das sei gar nicht so wild, und auf den ersten Blick scheint es auch so zu sein. Doch beim genaueren Hinsehen führt der Ankereffekt zu Fehlentscheidungen und die können richtig ins Geld gehen. Denn der Ankereffekt wirkt wie ein Stück Metall neben einem Kompass, das die Nadel in die falsche Richtung zeigen lässt.

Der Blick ins Depot... und schon ist es passiert!

Für Anleger gehört er dazu, der Blick ins Depot. Man verschafft sich schnell einen Überblick über den Stand und sieht sofort, ob die eigenen Positionen im Plus liegen oder im Minus. Der Broker ist gerne zusätzlich behilflich und färbt die Ergebnisse entsprechend farbig ein in Hoffnungsvollgrün oder Blutrot. Und schon ist es passiert, wir unterliegen dem Ankereffekt. Der Anker ist hier unser Einstandskurs. An ihm bemisst sich, ob unsere Position im Plus oder im Minus liegt. Und die Folge ist, dass wir hieran auch unsere Einschätzung zu der Aktie und zu dem Unternehmen treffen.

»Fixiere Dich nicht auf Deinen Einstiegskurs und warte darauf, eine Verlustaktie zu verkaufen, sobald Du wieder die Gewinnschwelle erreicht hast. Die meiste Zeit agierst Du emotional und es ist finanziell besser, den Verlust gleich zu realisieren und in Unternehmenspositionen zu wechseln, von denen Du überzeugt bist."
(Ian Cassel)

Steht hinter Microsoft in unserem Depot ein Minus von 20 % haben wir eine andere Einschätzung dazu, also wenn es ein Plus von 20 % ist. Dabei ist es das selbe Unternehmen und der aktuelle Kurs ist ebenfalls derselbe. Und natürlich auch die Zukunftsperspektive für das Unternehmen und damit für die Kursentwicklung. Aber unsere Bewertung ist durch unseren Einstandskurs beeinträchtigt, durch diesen Anker. Und auf Basis dieser Bewertung treffen wir unsere Entscheidung, ob wir die Aktie halten, nachkaufen oder abstoßen. Und das ist fatal, denn unbewusst manipuliert uns unsere Psyche und damit kann unsere Entscheidung gar nicht so gut sein, wie sein sollte.

»Aktienkurse veranlassen die Menschen Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden. Sich auf Kursbewegungen zu fokussieren, ist eine fürchterliche Art, in Unternehmen zu investieren."
(Warren Buffett)

Grundlage für den Kauf (oder Verkauf) einer Aktie sollte ausschließlich sein, wie wir das Unternehmen, seine Marktstellung, seine Umsatz- und Gewinnentwicklung und seine Zukunftsperspektiven auf Sicht der nächsten drei, fünf und zehn Jahre einschätzen. Ob eine bestehende, also früher einmal gekaufte, Position im Minus oder im Plus liegt, darf dabei keine Rolle spielen, da unsere Entscheidung ansonsten nicht gut (genug) und verzerrt ist. Durch den Ankereffekt.

»Value Investoren sollten ihre Investments nicht als Aktien verstehen, die den täglichen Schwankungen des Marktes unterliegen, sondern als Teileigentum an den zugrunde liegenden Unternehmen.«
(Seth Klarman)

Mein Fazit fällt daher auch eindeutig aus: Sei Dir des Ankereffekts bewusst, hole ihn Dir immer auf den Schirm, bevor Du eine Entscheidung zum Kauf oder Verkauf einer Aktie eines Unternehmens triffst. Vergiss nie, dass Du nicht einfach nur ein Stück Papier kaufst, sondern Dich an einem Unternehmen beteiligst, an einem Business. Eliminiere den Ankereffekt aus Deinen Aktienbewertungen und trifft bessere Entscheidungen. Verschenke weniger keine Rendite!

Disclaimer: Habe Microsoft auf meiner Beobachtungsliste und/oder im Depot/Wiki.

• Überarbeite Fassung eines Artikels aus März 2020

13 Kommentare:

  1. Daniel Deutsch07.04.22, 08:47

    Ein sehr wichtiger Beitrag, vielen Dank. Ich erkläre diesen für einen der bedeutendsten Finanzblogartikel überhaupt. Er zeigt den Unterschied von Spekulation und Investition. Auch wenn ich kein Anfänger bin, ertappe ich mich, schwankend zu werden. Mittlerweile sehe ich nur ins Depot, wenns aufwärts geht.

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  2. Hallo Michael,
    Du hattest vor einiger Zeit das Buch "Gier" (Neuroökonomie) von Jason Zweig empfohlen - es ist eines der besten Bücher, die ich je über die Psychologie an der Börse gelesen habe. Auch der "Ankereffekt" ist dort, allerdings etwas verklausuliert, beschrieben. Hatte das Buch aufgrund Deiner Empfehlung gekauft und gelesen. Kann es hier nur dringendst weiterempfehlen!
    Gruß, Reginald

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    1. Moin Reginald,
      richtig, Jason Zweigs Buch "Neuroökonomie: Wie wir ticken, wenn es ums Geld geht" ist ein Augenöffner in Bezug auf unser (un-)rationales Verhalten und man findet sich in vielen der dort beschrieben Situationen "ertappt". Leider ist die deutsche Ausgabe ständig vergriffen.; aktuell ist endlich mal wieder ein bezahlbares Exemplar bei Amazon verfügbar (hier guckste). Muss man ggf. öfter mal nachschauen, ob wieder eins reinkommt...

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    2. Hallo Michael,
      auch von mir mal was Aktuelles: Hier mal eine Strategie, wie man mit dem "Ankereffekt" umgehen kann, wenn kurz nach Deinem Aktienkauf der Markt dreht und alles "nach Süden" dreht: Verkauf Deine Aktie und kaufe sie gleich wieder (Du bleibst also in der Aktie investiert). Das kostet Dich zwar Ordergebühren (bei Smartbroker weniger al 10 Euro) aber Du realisierst damit Verluste, die Du mit anderen Ertragseinkünften (z.B. Dividenden) oder sonstigen Gewinnen gegenrechnen kannst (Du erhälst sie also steuerfrei (zumindest bis zur Höher Deiner relalisierten "Verluste")). Da ich eher so eine Strategie wie "buy and hold" verfolge (bin "Hartgesottener" im Sinne Kostolanys) sind mir dann die niedrigen Einstigswerte (ich kaufe ja dann, wenn die Aktien billig sind) egal.
      Liebe Grüße, Reginald

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    3. Meines Wissens nach (und auch laut ChatGPT) können Aktienverluste nicht mit Dividenden oder Zinsen verrechnet werden, nur mit Gewinnen aus Aktienverkäufen.
      Viele Grüße, Rainer

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  3. Für mich als Anfänger erlaube ich mir die Frage, was ich tun sollte, wenn eine Aktie deutlich im Minus ist. Konkret bin ich mit einer Aktie 82% im Minus. Ging schneller als erwartet, vom Unternehmen halte ich jedoch nach wie vor viel. Verkaufen lohnt sich meiner Meinung nach jetzt nicht mehr, daher hätte ich einfach weiter gehalten und gesehen, wie es in 10 Jahren aussieht. Wie sehr ihr das?

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    1. Alleine entscheidend sollte für Dich sein, wie Du das Unternehmen heute einschätzt. Vergiss Deinen früheren Aktienkauf, ob der nun 82 % im Minus oder 205 % im Plus liegt! Stell Dir vor, Du hättest die Aktie noch nicht im Depot und dann die Frage, ob Du heute die Aktien kaufen möchtest. Nicht weil Du glaubst, dass die Aktie steigen könnte, sondern weil Du an dem Unternehmen beteiligt sein möchtest und denkst, dass dessen Geschäfte in den nächsten Jahren gut laufen werden und deshalb der Wert des Unternehmens steigen wird. Sind Deine Antworten auf diese Fragen "ja", dann haste die richtige Aktie im Depot!

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  4. Schließe mich der Meinung von Michael komplett an, wobei ich Euch (Dir und Michael) nochmals meinen Ansatz erkläre: Du kannst Deine Aktie verkaufen und am gleichen Tag auch wieder neu (zurück)-kaufen. Das kostet Dich 2 Mal Ordergebühren (und das Risiko, dass die Aktie in der Zeit, in der Du sie nicht hast wieder steigt - Du also mehr beim Zurückkauf bezahlen musst) und Du realisierst Deine Verluste (kannst damit also andere Gewinne (z.B. Dividenden anderer Aktien) gegenrechnen, so dass Dir die 25% Kapitalertragsteuer erspart bleiben). Du hast also weiterhin Deine Aktie hinter der Du stehst, aber auch dokumentierte Verluste zum Gegenrechnen von Gewinnen (dabei sollten allerdings die "gesparten" 25% Kapitalertragssteuer höher sein als die Ordergebühren - sonst machst du ja Verlust).
    Liebe Grüße, Reginald

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    1. Das "löst" das Problem des Ankereffekts aber nicht, Reginald. Du beschreibst, dass man Kursverluste realisieren sollte, um sie mit Gewinnen zu verrechnen, wodurch man Steuern sparen kann. Kauft man die Aktien sofort nach dem Verkauf zurück, hat man keinen sichtbaren Verlust mehr in der Depotübersicht, aber... der Einstiegskurs als Anker bleibt bestehen. Er ist dann eben nicht mehr z.B. 125 Euro, sondern z.B. 75 Euro, aber der Einstiegskurs bleibt als Ausgangs- und Vergleichspunkt. Egal, wie die künftige Kursentwicklung aussieht, man bezieht sie auf den eigenen Einstiegskurs. Wenn also Herr Müller über die A-AG spricht und das mit Frau Meier und beide haben deutlich andere Kaufkurse, dann haben sie auch beide (alleine deshalb schon) eine unterschiedliche Sicht auf die Aktie. Weil Herr Müller mit z.B. 50 % im Minus liegt und Frau Meier zum selben Zeitpunkt mit 30 % im Plus.

      Dabei ist der eigene Einstiegskurs nur einer der vielen möglichen Anker, die unsere Wahrnehmung von einer Aktie verzerren. Bei KKR habe ich stets ein zu positives Bild, weil ich das Unternehmen schon lange begleite - schon seit Ende der 1980er Jahre und der Übernahmeschlacht um RJR Nabisco. Ich bin ein Fan von Henry Kravis und habe mehrere Bücher gelesen, die sich mit dieser Zeit (und KKR) befassen. Wenn ich also KKR mit seinen Wettbewerbern (wie Blackstone oder Apollo Global) vergleiche, hat KKR immer einen leichten Vorteil - wegen meines willkürlichen Ankers. Ich mache mir das dann immer gezielt bewusst, aber der Einfluss bleibt dennoch zumindest ein bisschen bestehen. Weil unsere Psyche nunmal so funktioniert...

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  5. Ich denke, die Sache ist etwas komplizierter. Den Ankereffekt hat zb auch meine Freundin, deren Depot im Minus ist, aber die "verdienten" Dividenden fehlen. Auch wenn man weiß, dass man das Depot um Dividenden hochrechnen muss, bleibt das Gefühl des Verlustes.

    Ein weiterer Punkt: wenn das gesamte (diversifizierte) Depot im Minus ist, kann man gerne die Strategie; Aussitzen, fahren. Wenn einzelne Titel oder Sektoren im Minus sind, kann man auch eine andere börsenweisheitbasierte Steategie fahren, "Gewinne laufen lassen und Verluste begrenzen".

    "Von einem Invest überzeugt sein!" Ganz ehrlich, wir sind Kleinanleger, die am Abend und Wochenende ein wenig youtube schauen und hoffentlich ein paar Blogs lesen. Da hat doch niemand genug Wissen um überzeugt zu sein. Man hat Argumente auf ein aussichtsreiches Invest, man sollte weder von seinen Argumenten, noch von sich allzusehr überzeugt sein. Der Dunnig-Kruger-Effekt ist wohl der teuerste für Anleger.

    Immer Ambiguinitätstolerant bleiben.

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    1. Ich als Kleinanleger bin von meinen Invests überzeugt.
      Und nachdem ich mich eingelesen habe, reicht auch eine regelmäßige Aktualisierung am Wochenende oder zur Veröffentlichung von Zahlen um weiter überzeugt zu bleiben.

      Mach dich als Kleinanleger nicht kleiner als du bist.

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    2. Kleinanleger sollten vor dem ersten Aktienkauf unbedingt das Buch "Der Börse einen Schritt voraus" von Peter Lynch lesen (hier zu meiner Kurzrezension). Er verfasste es vor fast 35 Jahren und die man könnte meinen, die ganzen Unternehmen und Aktien, die er als Beispiele anführt, wären inzwischen irrelevant. Aber darum geht es in dem Buch nicht. Es geht darum, wie man ohne BWL-Studium und Analysten-Expertise hervorragende Aktien findet, einfach indem man gründlich nachdenkt und seine Umgebung offen wahrnimmt. Dieses Buch ist die Grundlage für das Investieren; mit ihm kann jeder Erfolg an der Börse haben (sofern er sich denn an die dort beschriebenen Erfolgsrezepte hält). Lynch selbst meinte: "Jeder kann Geld mit Aktien verdienen, wenn er nur seine Hausaufgaben macht". Und der begriff 'Hausaufgaben' nicht zufällig gewählt, sondern beschriebt es perfekt - Hausaufgabenniveau reicht völlig aus, Genialität oder höhere Mathematik sind nicht nötig.

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  6. Danke Euch - Jason Zweig wird mein nächstes Audible Book

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