Montag, 3. Juni 2019

Kissigs Kunstfehler: Second Level Thinking - Denk nach. Nochmal. Weiter. Ernsthaft!

Manchmal ist es kaum noch auszuhalten, so viel Blödsinn muss man lesen. Oberflächlichen Mist, flachgeistige Prognosen, minderbemittelte Einschätzungen ohne jeden Tiefgang und 'Analysen', die man allenfalls noch als niedrigschwellige Perversion einer Analyse durchgehen lassen könnte. Ein Trauerspiel und auch noch ein kostspieliges, was die Ressourcen Zeit und Geld angeht. Denn zumeist liest man nur oberflächliches Nachplappern des Mainstream-Gedankenguts, also genau das, was jedermann bei einer Nachricht als erstes durch den Kopf geht, die erste Schlussfolgerung - und was deshalb auch gar nicht als 'Erkenntnis' weiter verbreitet werden müsste sollte. Der Mehrwert ist gleich Null.

»Kurzfristige Marktprognosen sind Gift und sollten an einem sicheren Ort aufbewahrt werden fernab von Kindern und auch von Erwachsenen, die sich an der Börse wie Kinder verhalten.«

Leider hören 95% der Menschen nach diesem ersten voltschwachen Gedankenblitz auf mit dem Denken und haben sich ihre abschließende Meinung gebildet. Sie denken quasi genau von 12 Uhr bis Mittag und keine Sekunde weiter. Und nur wenige von ihnen sie danach noch bereit in der Lage, diese (vorgefasste) Meinung zu revidieren. Der perfekte Nährboden für latente Ignoranz. Und wenn dann die seichtgeistigen Ergüsse großer Teile der Finanzpresse auch noch die eigenen ebenso oberflächlichen Überlegungen bestätigen, dann geht es richtig ans Eingemachte: nämlich ans Geld.

»Viel mehr Anleger gehen davon aus, dass sie die künftige Richtung von Volkswirtschaften und Märkten kennen - und handeln auch so - als dies tatsächlich der Fall ist. Sie gehen aggressiv vor, weil sie zu wissen glauben, was auf sie zukommt, und das führt selten zu den gewünschten Ergebnissen. Investitionen auf der Grundlage fester, aber falscher Prognosen sind eine Quelle erheblicher potenzieller Verluste.«
(Howard Stanley Marks)

Denke nach, denke weiter, denke richtig!

Doch es gibt auch diejenigen Wenigen, die - bewusst oder unbewusst - tiefschürfender nachdenken und sich nicht mit dem ersten mentalen Schnappreflex zufrieden geben. Star-Investor Howard Stanley Marks nennt dies "Second Level Thinking" und es ist genau jenes Denken, das uns die wirklichen Erkenntnisse über Chancen und Risiken bringt. Nicht nur bei Aktieninvestments, aber hierbei in besonderem Maße. Denn die (erste) Kursreaktion basiert fast immer und ausschließlich auf dem Mainstream-Schnappreflex und sie bietet dadurch nicht selten besondere Chancen für die 'Weiterdenker'. Beispiel gefällig?

Amazon und der Mindestlohn

Okay, aber nur ein Beispiel, um das Prinzip des 'Second Level Thinking' zu veranschaulichen. Vor einiger Zeit geriet Amazon in den USA in die Kritik, weil man seinen Mitarbeitern zu geringe Löhne zahlen würde. Die Antwort von Amazon war, einen Mindestlohn von 15 Dollar je Stunde einzuführen. Und die Reaktionen waren vorhersehbar: während die Gewerkschaften jubilierten, verfielen die Börsianer in Katerstimmung. Denn Amazon war ja erst kurz vorher profitabel geworden und wies erst seit Kurzem Gewinne aus. Und nun würden die Margen einbrechen wegen der viel höheren Löhne und das würde das Kurspotenzial begrenzen.

Soweit so vorhersehbar die Schnappreflex-Reaktionen. Doch Amazon-Chef Jeff Bezos ist der reichste Mensch der Welt und er gilt nicht als jemand, der vor Widerständen einfach einknickt. Die deutschen Gewerkschaften mit ihren seit Jahren erfolglosen Streikchen können ein Lied davon singen.

Zeit, einen Schritt weiterzudenken: Was könnte Amazon mit dem Schritt bezwecken, welche 'Nebenwirkungen' wird er haben? Die USA weisen seit Jahren ein robustes Wirtschaftswachstum auf und deutlich sinkende Arbeitslosenzahlen. Inzwischen sind sie an einem Punkt angelangt, wo vor allem im unteren Lohnsegment viele Jobs nicht mehr besetzt werden können und daher die Arbeit liegen bleibt. Restaurants und Cafés führen verlängerte Wochenenden ein, an denen sie aufgrund Personalmangels geschlossen haben. Paketdienstleister finde keine Fahrer mehr, Fließbandjobs bleiben unbesetzt. Donald Trumps rigorose Einwanderungspolitik verstärkt dieses Problem noch, das es vor allem Mexikaner waren, die viele dieser prekären Jobs ausführten. Seitdem die Einwanderungszahlen rückläufig sind bzw. die Rückführungen deutlich steigen, stehen in diesem Segment viel weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. Und genau das ist der Kern: Amazon leidet darunter, dass es zu wenig neues Personal findet. Denn Amazon wächst rasant und trotz der zunehmenden Digitalisierung und Automation der Prozesse wächst das Heer der Angestellten. Oder zumindest die freien Stellen.

Amazons 'perfekte' Reaktion auf das Dilemma? Man führt einen Mindestlohn von 15 Dollar ein, der fast dreimal so hoch liegt wie üblich. Das ist teuer auf den ersten Blick. Das Kalkül dahinter ist allerdings, dass man so die freien Stellen besetzen kann - und diese neuen Mitarbeiter nicht aus dem (nicht mehr vorhandenen) Heer der Arbeitslosen rekrutiert, sondern von der Konkurrenz! Indem Amazon seine Mindestlöhne massiv anhebt, schwächt es die Konkurrenz, die sich das nicht leisten kann und somit Arbeitskräfte verliert. Wodurch die Probleme der Konkurrenten weiter wachsen, bei der Produktion, beim Kundenservice, bei der Zustellung. Amazon hingegen läuft mit den neuen Mitarbeitern wieder runder und kann wieder schneller wachsen. Und so refinanziert sich der angehobene Mindestlohn indirekt wieder - natürlich hilft auch, dass man freiwillige Zusatzleistungen an anderer Stelle gestrichen hat, um den Mindestlohn gegen zu finanzieren.

Ich finde, Amazons Einführung des Mindestlohns ist ein Paradebeispiel für Second Level Thinking. Eine oberflächlich betrachtet kostspielige Neuerung bringt neben einem positiv beeinflussten Image und zufriedeneren Mitarbeitern unterm Strich sogar unternehmerische Erfolge und höhere Gewinne auf mittlere und lange Sicht. Wer also richtig nachgedacht hat, konnte Amazons Kursabsacker als Chance verstehen. Alle anderen sahen ihn als Bestätigung für ihre Befürchtungen und damit nur das (vermeintliche) Risiko.

»In der realen Welt schwankt die Wahrnehmung im Allgemeinen zwischen 'ziemlich gut' und 'nicht so toll'. Aber in der Welt der Investitionen schwankt sie oft zwischen 'makellos' und 'hoffnungslos'. (...) Die Macht der psychologischen Einflüsse darf niemals unterschätzt werden. Gier, Angst, Ungläubigkeit, Konformismus, Neid, Ego und Kapitulation sind Teil der menschlichen Natur und ihre Fähigkeit, Handlungen zu erzwingen, ist tiefgreifend, besonders wenn sie extrem sind und von der Herde geteilt werden. Sie werden andere beeinflussen und der umsichtige Anleger wird sie ebenfalls spüren. Keiner von uns sollte erwarten, dass er isoliert und dagegen immun ist.«
(Howard Stanley Marks)

Die Geschichte von Amazon und dem Mindestlohn ist nur ein Beispiel von vielen, wo der erste Gedanke nicht der beste ist und das offensichtlich auf der Hand Liegende nicht der Kern der Sache. Weitere Beispiele lassen sich schnell und einfach finden, jedenfalls mit einigem zeitlichen Abstand. Und das ist ein weiterer wichtiger Punkt: 'Second Level Thinking' bedeutet, dem ersten Reflex nicht nachzugeben und zuerst nachzudenken, weiterzudenken, bevor man auf dieser Grundlage handelt. Wenn es denn nach reiflicher Überlegung überhaupt noch nötig sein sollte. "Geduld ist die oberste Tugend des Investors", lehrte uns Benjamin Graham. Und das bedeutet auch, sich die nötige Zeit zu nehmen, bis man alles genau durchdacht hat, und es heißt, unserem angeborenen (Flucht-) Instinkt, unmittelbar reagieren zu müssen, zu widerstehen.

»Wenn Sie eine Anlage finden, die das Potenzial hat, sich über einen langen Zeitraum hinweg zu vermehren, besteht eine der schwierigsten Aufgaben darin, geduldig zu sein und Ihre Position so lange zu halten, wie dies aufgrund der voraussichtlichen Rendite und des Risikos gerechtfertigt ist. Anleger lassen sich leicht durch Nachrichten, Emotionen, die Tatsache, dass sie bisher viel Geld verdient haben, oder die Aufregung über eine neue, scheinbar vielversprechendere Idee zum Verkauf bewegen. Wenn Sie sich den Chart eines Wertpapiers ansehen, das seit 20 Jahren nach rechts oben tendiert, denken Sie daran, wie oft sich ein Inhaber davon überzeugen musste, nicht zu verkaufen.«
(Howard Stanley Marks)

Und was tue ich?

Tja, ich wünschte, ich könnte nun wahrheitsgemäß behaupten, ich würde mich immer richtig verhalten. Ist aber leider nicht so. Zwar bemühe mich ganz bewusst, lieber immer zweimal nachzudenken, bevor ich nichts tue, aber das gelingt mir nicht immer und vor allem immer noch zu selten. Doch ich weiß zumindest, wie es richtig geht, und daher fühle ich mich den 95% wesentlich näher als der großen Gruppe der Schnappreflexdenker. Und täglich in kleinen Schritten ein besserer Investor zu werden, das ist auch ein Teil des Weges, den ich mir für mein Leben ausgesucht habe...

Disclaimer: Habe Amazon auf meiner Beobachtungsliste und/oder in meinem Depot/Wiki,


Mein Lese-Tipp

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